Die letzte Grenze

Kunsthaus Zürich. Shifting Identities. Burkhard Meltzer

Zürich. Switzerland

04 June 2008

Fast wäre ich achtlos an einer freistehenden Wandecke vorbeigelaufen, die mitten in der Ausstellungshalle herum steht. Wäre da nicht der unscheinbare Hinweis der Beschilderung gewesen, die hier eine künstlerische Arbeit verzeichnet - Gregory und Cyril Chapuisat, "Intra Muros" [1]. Das erfahrbare Werk des Genfer Künstlerduos verbirgt sich oft hinter Wandoberflächen, die man zunächst als Teil der bestehenden Architektur betrachten könnte. Wer jedoch versucht, sich mit einem kurzen Rundblick die räumliche Funktion des Gebildes zu erschliessen, wird keine einleuchtende Erklärung für die rätselhaften Einbauten finden. Die Arbeiten öffnen sich vor allem für den Tastsinn - und das ist in den meisten Fällen durchaus wörtlich gemeint. Tatsächlich: in den schmalen Seitenflächen befinden sich zwei unscheinbare Klappen, die einen Weg ins Innere der Konstruktion versprechen. Mit weichem Teppich unter den Knien krieche ich weiter durch die Gänge der Wandecke, die für alle Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz ausgerüstet ist. Seltsam - im Inneren fühle ich mich eher geborgen als eingeengt. Eine Kochgelegenheit, zwei Schlafplätze und sogar ein kleines WC befinden sich im dort.

Ja, es wäre tatsächlich möglich, hinter diesen Aussenwänden zu überleben. Jener verborgene Innenraum verkörpert das perfekte Gegenteil seines äusseren Gesichts. Die weisse Wand markiert immer noch die letzte Grenze des zeitgenössischen Kunstbetriebs - auch wenn diese Demarkationslinie immer wieder Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen ist. Innen und Aussen, Natur und Kunst, Kunst und Leben: Ohne Probleme fügen sich diese gegensätzlichen Begriffe in das westliche Denkmodell dualistischer Unterscheidungen ein. Diese Erkenntnismethode dient bis heute als geistiges Werkzeug zur Abgrenzung und Differenzierung. Doch wurden damit auch neue Probleme geschaffen - durch die dualistischen Begriffspaare fallen einige Grauzonen aus dem Erkenntnisbereich heraus.

Was denke ich, das ich vor mir sehe? So könnte zweifelnd der französische Philosoph Descartes im 17. Jahrhundert gefragt haben. Hier eine fühlbare Realität im Inneren der Chapuisatschen Konstruktionen, dort eine abstrakte sprachliche Idee, die eine Deutung nahe legt. Zwischen materiell (z.B. ertastbarer) und immaterieller (z.B. begrifflicher) Erkenntnis zu unterscheiden, schafft eine ebenso nützliche wie auch problematische Differenzierung von Wahrnehmungsprozessen. Durch Projektionen und Überblendungen von eigentlich klar abgegrenzten Sphären gelingt es Gregory und Cyril Chapuisat, einen Mythos westlichen Denkens zu befragen. Zunächst scheint sich Innen und Aussen ganz klar gegensätzlich zueinander zu verhalten: dort Lebensraum / hier Kunstraum. Beides lässt sich nicht gleichzeitig erfahren, eines immer nur aus der Erinnerung heraus mit dem Anderen in Verbindung bringen.

Das Versteck hinter der Wand funktioniert jedoch auch als Kommentar zur Aussenwand, ja seine Zeichen deuten sogar in eine gemeinsame Richtung. Die weisse Wandfläche auf der Aussenseite kann ich ebenso wie die unbenutzte, spartanische Eremitenhöhle im Inneren als eine puritanische Siedlerphantasie deuten. Wobei die Zeichen dieser Mission eher auf Rückzug als auf Eroberung stehen. Die letzte Grenze? Ich kann nicht sagen, wo die Demarkationslinie verläuft, noch ob sie überhaupt existiert. Und dennoch ist der Besuch von "Intra Muros" eine Grenzerfahrung, die mir Letzteres nahe legt.


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[1Die Installation "Intra Muros" wurde vom 12.-18. Juni 2006 in der Ausstellung "Swiss Art Awards - Eidgenössischer Preis für Kunst" gezeigt.



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